Vom kleinen Engel, der ins Licht ging

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Vom kleinen Engel, der ins Licht ging

 

Wenn ich so zurückdenke, erinnere ich mich daran, dass bei uns zu Hause so gut wie nie Kerzen brannten. Sobald die Tage dunkler und länger wurden, kaufte meine Mutter ein Grablicht. Einmal im Jahr gingen wir zum Friedhof. Dort war meine Schwester begraben, die ich nie kennengelernt habe – sie starb bereits vor meiner Geburt. „Es war vielleicht besser für sie, dass Gott sie zu sich geholt hat“, sagte meine Mutter oft. Gleich nach ihrer Geburt war meine Schwester an Schläuche angeschlossen worden, wurde beamtet und war körperlich und vielleicht auch geistig behindert gewesen. Den Geburtstag meiner Schwester konnte ich mir mit der Zeit dadurch merken, dass meine Mutter in die Küche ging, sie sich dann dort einschloss und ich sie weinen hörte. Durch die Glaselemente der Tür konnte ich schemenhaft erkennen, dass sie eine Kerze angezündet hatte, mit gebeugtem Rücken am Küchentisch saß, den Kopf auf die Arme gestützt und dort saß, bis es dunkel wurde.

 

Er rief ihren Namen

 

Ich kann mich sehr deutlich entsinnen, wie wir jedes Jahr am 1. November an dem Grab meiner Schwester standen, uns Kindern war kalt und wir froren. Den ganzen Weg Richtung „Endstation“ der Straßenbahn und weiter gingen wir immer zu Fuß, obwohl wir hätten fahren können. Wir durften als Kinder dabei nicht rennen, rumalbern uns jagen, wie wir es gewohnt waren. Dieser „Spaziergang“ kam uns ewig vor, vielleicht auch weil sich der Schwermut der Erwachsenen übertrug. Auch heute noch fühlt er sich in der Erinnerung an, wie ein Leidensgang. Dort angekommen standen wir vor dem kleinen Grab mit einem schlichten Holzkreuz, auf dem ihr Name in schwarzen verschnörkelten Lettern stand. Ich weiß noch, wie ich ihn immer wieder bewusst las, wenn ich dort stand, weil er so gut wie nie ausgesprochen wurde bei uns daheim in Zusammenhang mit ihr. Wenn wir ihn sagten oder hörten, dann deshalb, weil eine meiner Cousinen so hieß. Es muss schmerzhaft gewesen sein, diesen Namen immer wieder zu hören, der jetzt so selbstverständlich einem anderen Menschen gehörte. Zu Hause gab es keine Dinge oder Gegenstände, die an das kleine Mädchen erinnerte, das kurz ein Teil unserer Familie gewesen war, sie hatte ihr kurzes Leben von wenigen Monaten im Krankenhaus verbracht. „Gott hat sie zu sich gerufen!“, davon war meine Mutter überzeugt, denn der Tod trat kurz nach der Taufe ein, die man noch notfallmäßig durchgeführt hatte. Meine Mutter klang immer sehr traurig, wenn sie davon sprach und gleichzeitig schien ihr der Gedanke Trost zu spenden, dass es ihr dort besser ging.

 

Der zweite Abschied

 

Die Tatsache, dass ich eine Schwester gehabt hätte, beschäftigte mich mit zunehmendem Alter und auch, wenn meine Mutter sich diesbezüglich verschloss, stellte ich als Kind Fragen. Das passierte, nachdem mein Vater uns Kinder einmal anherrschte und aufforderte, wir sollen doch entsprechend Trauer an den Tag legen. Ich hatte kein Bild im Kopf von ihr außer dieses Kreuz, das mittlerweile unter der Witterung gelitten hatte und dieses kleine Grab, um dessen Verlängerung meine Mutter mittlerweile jährlich auf dem Rathaus kämpfte und dabei immer wieder gefragt wurde, wie lange das Kind gelebt hätte, um zu bemessen, ob diese kurze Dauer die Erhaltung des der Grabstätte überhaupt rechtfertigte. Irgendwann bat sie mich, ob ich für sie die Daten in das Formular einzutragen könnte, ich sah, wie ihre Hand bei dem Feld mit dem Todesdatum zitterte, ihr die Tränen in die Augen schossen und sie deshalb nichts mehr sah. Irgendwann kam das Jahr, in dem das Grab geräumt wurde – nach Behördenermessen war die Zeit nun lange genug gewesen. Zu diesem erneuten Abschied nahm uns meine Mutter nicht mit, ich glaube es war ein Gefühl für Sie, alsob sie sie ein zweites Mal verlor.

 

Ein Licht, das für immer im Herzen brennt

 

Inzwischen waren wir längst in einem Alter, in dem es nichts mehr damit zu tun haben konnte, dass kleine Kinder und Kerzen keine gute Kombination sind. Trotzdem gab es höchstens Adventskranz. Obwohl ich den Grund ahnte, fragte ich meine Mutter, warum wir nie welche anzündeten. „Sie sind den Toten vorbehalten“, meinte sie. Tatsächlich war bei ihr inzwischen ein Ritual der Andacht daraus geworden. Ich brachte endlich den Mut auf zu fragen, wie sie denn eigentlich gewesen wäre, meine Schwester. Denn ich erinnerte mich, dass die Ordensschwestern, die sie zur Welt gebracht hatten, uns auf der Straße begegneten und dabei auch sagten, ich würde ihr sehr ähnlich sehen. Immer hatte ich gefürchtet, meine Mutter noch trauriger zu machen. Jetzt, wo die Erinnerung alles war, was ihr blieb, fand ich den Mut sie zu fragen. Sie erzählte mir von ihr und auch von der Beerdigung und dann holte sie Fotos, die ich bis dahin nie gesehen hatte. Man sah schwarz gekleidete Menschen, das dunkle Grab und diesen kleinen weißen Sarg und wie er darin verschwand. „Ich muss immer dran denken, wenn ich die weiße Flamme im Dunkeln sehe“, sagte meine Mutter und sie klang gedämpft, als käme ihre Stimme aus der Ferne: „Und immer, wenn das Licht dann ausgeht und der Rauch aufsteigt, dann weiß ich, dass mein kleiner Engel nach da oben gegangen ist.“

 

Redaktion: Dr. Silvija Franjic

Bildquelle: Marlies Schwarzin  / pixelio.de

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